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Der Referent George Steinmann steht während seinem Vortrag hinter einem Rednerpult und spricht in ein Mikrofon.
© FUG / Manu Friedrich

Ästhetik als Prävention. Kunst im Horizont der Agenda 2030

«Um es gleich vorweg zu nehmen: Meine Präsentation ist kein akademischer Vortrag, sondern ein Appell.
Ich beginne mit ein paar generellen Angaben zu meiner Person: Ich bin bildender Künstler, Musiker und Forscher. Ein Generalist. Gemäss der Laudatio der Universität Bern bin ich auch «Kritiker, der Verantwortung einfordert, Stellung bezieht und Nachhaltigkeit als Handlungsprinzip im Jetzt definiert». Meine Werkprozesse manifestieren sich sehr verschieden. Das verbindende Muster ist die Gewissheit über die wechselseitige Abhängigkeit der Dinge.Ich möchte mit meiner Kunst partizipieren nicht nur reagieren. Mich interessiert der Dialog, die Kooperation, im Wissen darüber, dass die gesellschaftliche Realität im 21. Jahrhundert zu komplex geworden ist, als dass wir uns den Luxus einer disziplinären Vereinfachung noch leisten können. Grundsätzlich interessiert mich eine künstlerische Haltung, die nicht nur an Produkten, sondern auch an prozesshaften Arbeitsschritten interessiert ist. Kunst ist für mich ästhetische Forschung. Last but not least: Während der ganzen Zeit meiner Praxis als Künstler be-fasse ich mich mit der ästhetischen Behandlung grosser ökologischer Zusammenhänge und seit den 1980-er Jahren mit Aspekten der Nachhaltigkeit. Heute nun ist mir die «Agenda 2030» ein wichtiger Kompass.

Die zentrale Frage ist: Welche Rolle spielt die Kultur und insbesondere die Kunst in diesem Kontext? Gibt es überhaupt eine «Nachhaltigkeit von Kultur» wie der Titel der heutigen Veranstaltung evoziert? Eine vielschichtige Frage.

Sicher ist: Eine Transformation des gegenwärtigen Gesellschafts- und Kulturmodells ist angesichts der sich dramatisch verändernder Lebensbedingungen für uns Alle unausweichlich. Die Frage ist daher nicht, ob «Nachhaltigkeit von Kultur» überhaupt nötig ist, sondern nur noch, wie wir sie umsetzen. Ein wichtiges Stichwort lautet: Suffizienz. Genügsamkeit. Auch der Kulturbetrieb muss den ökologischen Fussabdruck reduzieren. Für mich ebenso bedeutsam ist die Frage nach der Gestaltungskompetenz der Kunst für eine zukunftsfähige Gesellschaft.
Dazu vorerst ein paar konstruktive Statements:

1. Kunst ist gesellschaftsbezogene Wachsamkeit. Sie beobachtet genau was aus dem Planeten Erde im Anthropozän wird.

2. Kunst kann Menschen verändern, den sozialen Zusammenhalt stärken, gesellschaftlichen Wandel bewirken und Brücken bauen.

3. Kunst ist wichtig und keineswegs ein Luxus. In ihr liegt ein grosses Potential für Konfliktverhütung, Konfliktlösungen sowie für den Wiederaufbau nach Konflikten.

4. Kunst ist ein genuines Erkenntnisvermögen das sich auf der Höhe aller anderen Wissenschaften befindet.

5. Ein Paradigmenwechsel hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft ist ohne die Wissensform Kunst nicht möglich.

Was also hat Kultur und Kunst mit Nachhaltigkeit zu tun?
Dazu ein paar grundsätzlich Informationen: Die UN-Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung ist ein Weltzukunftsplan. Sie ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft auf allen Ebenen. Alle UNO-Mitgliedstaaten haben sich politisch verpflichtet, die Agenda 2030 umzusetzen. Dazu gehört auch das «Paris Agreement» von 2015. Das Abkommen ist ein rechtlich verbindliches Instrument der Vereinten Nationen und hat zum Ziel die globale Erderwärmung im Vergleich zur vor-industriellen Zeit auf unter 2 Grad Celsius zu begrenzen. Heute wissen wir: Dieses Ziel wird mit unserem Verhalten nicht erreicht. Der neuste Bericht des Weltklimarates (6. Synthesereport von 2023) zeigt dies schonungslos auf. 
Auch die Schweiz hat sich zu den Massnahmen des «Paris Agreements» verpflichtet. Nachhaltige Entwicklung ist als Ziel in Artikel 2 der Schweizer Bundesverfassung verankert. Wir sind aber noch weit davon entfernt, die Vorgaben des Vertrags einzuhalten. Die Schweiz ist extrem im Verzug. Mit Ernüchterung stelle ich deshalb fest: Wir tun nicht was wir wissen. Die Nachhaltigkeitsstrategie, heute auf vielfältige Weise instrumentalisiert, geht zudem inhaltlich in eine falsche Richtung: Die Vision einer weltweiten sozial- und naturverträglichen Entwicklung darf keinesfalls nur auf technische Lösungen, Faktenwissen und wirtschaftliche Interessen reduziert werden. Das sogenannte Drei-Säulen Konzept mit den Schwerpunkten Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt, ist ein fataler Trugschluss. Nicht nur weil sich im Begriff «Umwelt» eine anthropozentrische Sichtweise manifestiert, die eine Trennung zwischen Natur und Mensch macht und so quasi die Grundlage der globalen ökologischen Krise schafft, (Interessanter wäre der Begriff Mitwelt) sondern vor allem auch weil in diesem Konstrukt die Metaebene der Nachhaltigkeit, die kulturelle Dimension, ausgeschlossen ist.

Was bedeutet das in der Praxis?
Die Kompetenzen der Künste und der Kultur existieren als gestaltende Kraft nicht. Ein folgenschwerer Irrtum, denn ein ökosozialer Umbau unserer Gesellschaft wird nicht gelingen, solange man auf ästhetische Strategien verzichtet, die eine andere Lebensweise und Welt vorstellbar und attraktiv machen. Der Soziologe Harald Welzer formuliert es so: «Das grösste Defizit der Nachhaltigkeitsszene ist ihre visionäre Obdachlosigkeit». Mein Verständnis von Nachhaltigkeit umfasst deshalb explizit auch die kulturelle Dimension. Die Umsetzung der Agenda 2030 ist eine kulturelle Herausforderung!
Mit anderen Worten: Wir brauchen dringend eine Wertediskussion, in die sich auch die Wissensform Kunst einbringt. Nachhaltige Entwicklung und kulturelle Entfaltung sind wechselseitig voneinander abhängig. Dieser Ansatz ist noch immer viel zu wenig bekannt. Aber auch wenn die Verbindung von Nachhaltigkeit und Kultur - oder gar von Nachhaltigkeit und Kunst - Erstaunen auslösen mag: Es ist eine Verbindung mit Zukunft. Der Weg hin zu einer ökologischen- und sozial verantwortlichen Weltgemeinschaft kann nur unter Einbezug kultureller Neuorientierung und unter Inkludierung der Künste bewältigt werden. Es ist deshalb höchste Zeit, ernsthaft darüber zu diskutieren, welche Bedeutung das künstlerische Gestaltungswissen bei der Suche nach einer zukunftsfähigen Moderne hat.

Dazu jetzt ein konkretes Beispiel von mir, verortet hier an der UniS: Das Werk Saxeten, eine wachsende Skulptur von 2006.

Ausgangslage: Das «Werk Saxeten» ist eine Recherche über die Möglichkeit einer «Kunst- und Bau»- Intervention mit zukunftsfähiger Wirkung. Ausgangslage war ein Auftrag für eine künstlerische Intervention im Rahmen des vom Kanton Bern durchgeführten Umbaus des ehemaligen Frauenspitals zur heutigen UniS. Das Werk definiert Kunst als gesellschaftsbezogene Praxis, deren Potenzial primär in der Entwicklung und Bereitstellung spezifischer Denk und Arbeitsweisen, beziehungsweise Kompetenzen liegt. Oberste Prämisse war die Schaffung eines Kunstwerkes mit gesellschaftlicher Relevanz.

Ort: Das Werk ist aus dem Perimeter der UniS ausgelagert und findet seinen Ort in der steuerschwächsten Gemeinde des Kantons Bern. Der Ort heisst Saxeten. Wiewohl inmitten einer Tourismusregion gelegen, fliessen die Besucherströme bis heute an Saxeten vorbei. Das Dorf hat dadurch zwar seine bauliche Identität bewahrt, die Infrastruktur jedoch ist schwach. Der Laden im Dorf und das Postbüro wurden 2002 geschlossen. Ebenso die Schule und unlängst das einzige Restaurant.

Das „Werk Saxeten“ besteht aus drei Teilen: Einer Klause, einer Fussgängerbrücke, und einer Verortung hier an der UniS.

Klause 
Die Klause hat eine Fläche von 16 m2. Sie ist erschlossen durch den Saxeter Wanderweg und soll allen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Weltanschauung, Religion oder körperlicher Verfassung, Gelegenheit bieten einzukehren, sei es um nachzudenken oder zu meditieren. Dem Raum kommt dabei eine übergeordnete Bedeutung zu: Er lädt auswärtige Besucher in das Hochtal von Saxeten ein und fördert so den sanften Tourismus.

Fussgängerbrücke
Der Zweck der 19 Meter langen Fussgängerbrücke über den Saxetbach ist ein doppelter: Sie ist konkreter Brückenschlag und erschliesst den durch die grossen Unwetter im Sommer 2005 unterbrochenen Wanderweg. Darüber hinaus ist sie ein Symbol der Grenzüberschreitung und Zeichen für einen Dialog zwischen Stadt und Land, für Solidarität zwischen Zentrum und Peripherie.

Der dritte Teil des Werkes ist eine Verortung hier an der UniS mittels Fotografien aus Saxeten. Gerne können sie die Fotos nach der Veranstaltung in den Gängen, respektive bei den Türen besichtigen. Im Untergeschoss befindet sich zudem eine Orientierungstafel zum Werkprozess.

Noch eine Bemerkung zum Holz: Das Lärchenholz für das «Werk Saxeten» stammt aus dem nachhaltig bewirtschafteten, FSC-zertifizierten Berner Staatswald im kleinen Rugen bei Interlaken. Die Lärchen wurden durch den berühmten Forstingenieur, Staatsmann und Mitbegründer des Begriffs «Nachhaltige Forstwirtschaft», Karl Albrecht Kasthofer (1777-1853) 1820 angesät und entsprechend dem günstigsten Mondstand am 15. Dezember 2004 in meiner Anwesenheit gefällt.

Ich komme nun zum letzten Teil meiner Rede:
Die Natur, lange als unerschöpfliche Quelle von Ressourcen angesehen, erweist sich heute als ein überstrapaziertes und erschöpftes Gebilde, das sich aufgrund menschlicher Eingriffe aufzulösen beginnt. Unsere Erde ist krank. Durch uns. Wir stehen an einem kritischen Punkt der Erdgeschichte an dem die Menschheit den Weg in ihre Zukunft wählen muss. «Es geht um nichts weniger als um eine Neugestaltung der bewohnbaren Erde» sagt der Historiker Achille Mbembe. Ich ergänze: Die bisher übliche Praxis der rationalen Plünderung unseres Planeten muss durch ein Ethos der globalen Protektion ersetzt werden.
Ob in der Politik, in der Wirtschaft, in den Wissenschaften, oder im Kulturbetrieb: Die Komplexität unserer Zeit konfrontiert uns mit einem neuen Bild der Welt. Die heutigen Herausforderungen zeigen, wie sehr ökonomische, gesellschaftliche, ökologische und kulturelle Prozesse voneinander abhängig sind. Alle sind Ausdruck ein - und derselben Krise, die in erster Linie eine Krise der Wahrnehmung ist.
Wahrnehmung im weitesten Sinn ist die Kernkompetenz künstlerischer Arbeit. In ihr manifestiert sich das Suchen nach Transformation. Die Forderung nach transformativen Lösungsansätzen jedoch meint nichts weniger als das Programm einer tiefgreifenden Revision unserer gesellschaftlichen Werte. Dies wiederum verlangt auch ein Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Wer anders als wir selber könnten Nachhaltigkeit verwirklichen?

Was ist zu tun?

Mir persönlich scheinen 3 Wesensmerkmale zentral zu sein:

1. Das Prinzip des Dialogs. Unsere globalisierte Welt verträgt keine Abschottung mehr. Es braucht ein Bewusstsein der Allverbundenheit. Nur durch die Vernetzung und mit einem emanzipierten Dialog zwischen verschiedenen Kompetenzen entstehen nach-haltig wirkende Lösungen. Ich bin deshalb der Meinung, dass die Wissenschaften, die Politik, und die Behörden uns Künstler in die Debatte über eine zukunftsfähige Gesellschaft einbeziehen sollten. Als Botschafter, als Beirat, Querdenker oder als Brückenbauer. Vor allem aber: Die Natur-wissenschaften und die Politik müssen lernen, den Künstlern zuzuhören.

2. Das Prinzip der Solidarität. Wir sollten uns bewusst sein: Unser Handeln bestimmt nicht nur unser Sein hier in der Schweiz. Die Spillover-Effekte wirken sich auch auf den Rest der Welt aus. Es sind deshalb die symbiotischen Systeme die wir jetzt brauchen. Die Symbiose ist ein in der Natur hochwirksames System von wechselseitiger Abhängigkeit mit existenzieller Wirkung. Flechten zum Beispiel, Grundlage vieler meiner Werke, sind ein perfekter sozialer Verbund. Nicht nur geprägt von Konkurrenz, sondern auch von Solidarität. Der herkömmlich tradierte Begriff der westlichen Leistungsgesellschaft ist dadurch bis zum Letzten in Frage gestellt. Kompetenzgerangel ist bedeutungslos, denn wer ständig darüber nachdenkt, wie er den anderen mit raffinierten Strategien übertrumpfen kann, verlernt die Fähigkeit der Empathie. Solidarität bedeutet Vertrauen in das Wir. Ich plädiere deshalb für einen Ethos der gemeinsamen Zukunftsgestaltung.

3. Das Wissen über eine Ästhetik der Prävention. Was wir dringlichst brauchen ist eine neue Sensibilität. Sie beinhaltet Demut, Mitgefühl und Teilhabe. «Cultural grieving», ökologische Trauerarbeit, ein Begriff der mich seit meiner Kindheit auf Grund all der Zerstörungen der Mitwelt schmerzhaft begleitet, interessieren mich nicht mehr. Ich mag mich nach all den Jahren nicht mehr mit Reparaturen, Schadensbegrenzung und mit Katastrophenmanagement auseinandersetzen.
Neuerdings wird ja die grosse Reparatur ausgerufen. Alleine in der Schweiz gibt es 34'000 Altlast-Standorte die saniert werden müssen, gar nicht zu reden von den globalen Dimensionen.
Wir sind zur Reparatur verdammt. Zuerst wird ausgebeutet, dann zerstört, dann repariert. Dieses rücksichtslose Modell, durch die globale Finanz-industrie und die Wirtschaftslobby potenziert, ist nicht mehr tragbar und muss an ihr Ende kommen. Anstatt etwas Kaputtes zu reparieren, braucht es jetzt, in Zeiten der globalen Orientierungslosigkeit, eine alternative Bewusstseins-kultur: Kenntnis über die Verletzlichkeit der Erde und Offenheit für die feinstofflichen Zusammenhänge des Lebens.

Wie schafft man das?

Ein Ansatz zumindest scheint mir, wie ich schon vielfach zum Ausdruck gebracht habe, plausibel: Die Zeit für Pessimismus ist vorbei. Die multiple Krise unserer Zeit sollte als Chance zur Transformation genutzt werden.
Damit die Kurskorrektur gelingt, benötigen wir eine «Symbiose der Verantwortlichkeit». Sie kann nur verwirklicht werden, wenn auch ethische Kriterien und Spiritualität von Bedeutung sind. Es gibt Werte die nicht in ökonomische Einheiten überführbar sind.
Vor allem aber: Eine zukunftsfähige Gesellschaft kann nur verwirklicht werden, wenn die Trennung von «Kultur» und «Natur» endlich überwunden wird. Es geht letztlich um das Bewusstsein, unser «gemeinsames Haus» (Zitat Franz von Assisi), unsere Erde, zu schützen, zu ehren und der zynischen Vernunft unserer Zeit Kreativität entgegenzusetzen. Das scheint mir gerade heute, angesichts der Eskalation von struktureller Gewalt mit politischen und vor allem wirtschaftlichen Komponenten von grosser gesellschaftlicher Relevanz. Als Künstler kann und will ich nicht mehr länger den populistischen Versprechen der Politik und dem ökonomischen Geplänkel der Wirtschaft vertrauen. Es gibt eine moralische Pflicht, auch die gesellschaftliche Dimension mitzudenken. Es braucht jetzt radikale Ehrlichkeit. Verantwortung ist nicht mehr delegierbar. Ja, ich würde noch weiter gehen: Die Antwort liegt in uns selbst. Das dann wäre gelebte Kultur von Nachhaltigkeit.

Let’s walk the talk.»

Zur Person

Der Referent George Steinmann steht während seinem Vortrag hinter einem Rednerpult. Im Vordergrund ist verschwommen ein Teil des Publikums erkennbar, neben ihm ein Teil eines Blumenstrausses.
© FUG / Manu Friedrich

George Steinmann ist bildender Künstler, Musiker und Forscher. Er lebt in Bern.

Zur Veranstaltung

Schwarz-Weiss-Foto einer leeren Bühne mit einem Lichtkegel von drei Scheinwerfern; in den Lichtstrahlen ist feiner Nebel sichtbar.
© freepik.com

Die Videoaufzeichnung des Vortrags können Sie sich hier ansehen. 

Weitere Unterlagen zur Veranstaltungsreihe finden Sie hier.