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Porträtaufnahme von Lukas Fesenfeld. Sein Gesicht ist zum Teil von der Sonne beschienen und hinter ihm ist ein dünner Baumstamm sichtbar.
Lukas Fesenfeld will unser Ernährungssystem nachhaltiger machen. Bild: © Universität Bern / Bild: Vera Knöpfel

Ernährungszukunft für die Schweiz

Unser Ernährungssystem ist komplex – und nicht nachhaltig. Wer etwas ändern will, verliert vor lauter Einzelherausforderungen schnell den Gesamtzusammenhang – den sprichwörtlichen Wald – aus den Augen. Genau den nehmen Lukas Fesenfeld und seine wissenschaftlichen Mitstreiter:innen in den Blick. Sie haben mit «Wege in die Ernährungszukunft der Schweiz» einen Leitfaden zu den grössten Hebeln für ein nachhaltiges Ernährungssystem in der Schweiz entworfen.

Von Marcus Moser

Das Schweizer Ernährungssystem gleicht einem Flickenteppich. Ziel-, Interessen- und Wertekonflikte polarisieren die Debatte und führen immer wieder zu politischem Stillstand. Worauf könnte eine strategische Gesamtsicht des Ernährungssystems gründen? Die Schweiz hat 2015 die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung sowie das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet. Für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom «Gremium Ernährungszukunft Schweiz» ist dies die Basis. Sie sind überzeugt: Die gesamte Wertschöpfungskette im Ernährungssystem muss neu ausgerichtet werden, sollen die Nachhaltigkeits- und Klimaziele erreicht werden können.
Dr. Lukas Fesenfeld ist Leiter des wissenschaftlichen Gremiums, das vom Schweizer Netzwerk für Nachhaltigkeitslösungen (SDSN) initiiert wurde. Zusammen mit über 40 Wissenschaftler:innen erarbeitete Fesenfeld einen Leitfaden mit konkreten Massnahmen. Dieser wurde im Februar 2023 an einem Ernährungsgipfel an der Universität Bern im Beisein von Bundesrat Parmelin vorgestellt. Neben Einigkeit zwischen Politik und Wissenschaft liess die Veranstaltung eine gewichtige Differenz erkennen: der Zeithorizont für die Umsetzung der vorgeschlagenen Massnahmen ist für das wissenschaftliche Gremium deutlich enger.

- Lukas Fesenfeld, hier in dieser Kantine gibt es zwei Menus, ein vegetarisches und ein fleischhaltiges. Das fleischhaltige Menu kommt in der Reihe zuerst – aus Ihrer Sicht ein Fehler?

Es ist eine Voreinstellung, die es wahrscheinlicher macht, dass Menschen zum Fleischmenu greifen. Aber es gibt immerhin ausgeglichen ein Fleisch- und ein Vegimenu. Das ist schon mal gut.

- Ein weiterer Schritt wäre ein vegetarischer Tag ...

Klar, aber nicht alle Menschen leben vegetarisch. Wir kommen auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Ernährung in bestimmten Bereichen auch mit kleineren Schritten weiter. Die Ausser-Haus-Verpflegung ist bei unserer Arbeitsweise ein grosser Hebel. Öffentliche und private Kantinen können neben vegetarischen Angeboten zum Beispiel auch den Anteil pflanzlicher Produkte erhöhen und bei einer Bolognese weniger Fleisch verwenden. Oder Mischprodukte einsetzen. Hier sind die Möglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft.

- Sie erwähnen in ihrem Bericht den Effekt möglicher positiver Kippmomente...

Ich habe hier ein Lieblingsbeispiel das von einer Studie begleitet wurde: Eine Kantine hat 50 Prozent mehr fleischlose Gerichte angeboten. Als Ergebnis wurde eine Steigerung der fleischlosen Ernährung auf 80 Prozent bei den Gästen nachgewiesen. Es gibt Nachahmungseffekte, die positive Ergebnisse überproportional steigern können. Anderes Beispiel: die angestrebte gemeinsame Erreichung verschiedener Nachhaltigkeitsziele bietet mittel- und langfristig grosse Synergiepotenziale. So gibt es beispielsweise eine positive Wechselwirkung zwischen ausgewogener Ernährung, gesundheitlichen Effekten, ökologischen Zielen und der Versorgungssicherheit. Immer vorausgesetzt, dass die Massnahmen im nötigen Transformationsprozess aufeinander abgestimmt, in der richtigen Reihenfolge und mit der nötigen Effektivität getroffen und umgesetzt werden. Dazu wollen wir mit messbaren Zielindikatoren in unserem Leitfaden beitragen.

- Die Lektüre Ihres Berichts ist anspruchsvoll. Als Normalbürger:in wird einem ob all der vorgeschlagenen Massnahmen schwindlig.

Das Thema Ernährungssystem ist komplex. Im Bild: Oft sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Aber es geht eben um das gesamte System – wenn man etwas rauszoomt aus den Details der Agrar- und Ernährungspolitik sieht man eher die grossen Hebel der Transformation. Genau darum haben wir in unserem inter- und transdisziplinären Vorgehen versucht, mögliche Wege aufzuzeigen, um das System in Gänze zu transformieren und Hebel zu identifizieren, die eine positive Dynamik auslösen können. Dazu gehören Massnahmen die neue, nachhaltige Wertschöpfung stärken und die Chancen des Wandels ins Zentrum rücken.

- Das wissenschaftliche Gremium fordert eine rasche Transformation hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem. Was heisst das konkret?

Wir sollten bis 2030 eine Halbierung des Fleischkonsums erreichen. Auch der heute in der Schweiz hohe Konsum von Milch und Milchprodukten müsste auf fast die Hälfte sinken, ebenso der Verzehr von Eiern. Dafür würde der Anteil von Pflanzen und pflanzlichen Proteinen an der Ernährung steigen. Hinzu kommen Reduktionsziele bei der Umweltbelastung, etwa beim Stickstoffverlust durch Düngung und bei den Treibhausgasemissionen.

- Wie sind Sie auf diese Werte gekommen?

Wir haben die Empfehlungen aus den globalen Nachhaltigkeitszielen (SDGs) und den planetaren Grenzen, die die Schweiz betreffen, sowie spezifischen Studien zur Schweizer Ernährungssicherheit und gesunderhaltenden Ernährung abgeleitet. Unsere Ernährungsweise sollte so sein, dass sie die Gesundheit fördert, die Regenerationsfähigkeit der natürlichen Ressourcen gewährleistet, sozial und ökologisch verträglich ist und den Tierschutz berücksichtigt. Wenn wir das inzwischen weltweit etablierte Modell der «Planetary Health Diet» und die natürlichen Ressourcen der Schweiz sowie die Besonderheiten der Schweizer Geografie und Landwirtschaft berücksichtigen, kommen wir zu diesem Ergebnis.

- Ernährungsempfehlungen gibt es bereits. Ein Grossteil der Bevölkerung kennt die Ernährungspyramide und die Empfehlung «5 am Tag». Aber wir halten uns nicht daran.

Das Spannungsfeld zwischen Ernährungsempfehlungen und Ernährungs-gewohnheiten ist tatsächlich gross. Hier sollten Massnahmen zur Transformation des Ernährungssystems besonders ansetzen: Wenn wir unser Ernährungssystem auf eine nachhaltige Basis stellen wollen, müssen wir den pflanzlichen Anteil unserer Lebensmittel steigern und den tierischen Anteil senken. (Vgl. folgende Tabelle) 

© Fesenfeld et al. 2023


- Essen ist sinnlich und emotional. Vorschriften kommen da schlecht an.

Ja, direkte Verbote beim Konsum sind oft nicht zielführend. Das braucht es aber auch nicht unbedingt. Die Ernährung lässt sich auch rascher durch die Anpassung des Angebots (z.B. einen erhöhten Anteil vegetarische Produkte in den Gerichten) sowie gesellschaftliche Vorbilder verändern. Denken Sie ans Beispiel mit der Kantine. Wenn meine Kolleginnen und Kollegen das Vegi-Menu wählen, bin ich eher geneigt, das auch zu tun. Ausserdem werden wir schon heute stärker gelenkt, als uns häufig bewusst ist.

- Sie sprechen nun von Marketing und Verkaufsaktionen?

Nicht nur. Der Staat setzt die Rahmenbedingungen und beeinflusst durch Regulationen, Steuern oder Subventionen die Menge und Qualität unserer Nahrungsmittel massgeblich. Er ist deshalb bereits heute der zentrale Akteur im Ernährungssystem. Natürlich sollten alle Akteure im System zur Transformation beitragen, aber in der Realität führt kein Weg daran vorbei, dass der Staat eine aktive Rolle in diesem Prozess einnimmt. Er hat diese sowieso schon inne.

- Der Bauernverband hat sofort gegen Ihre Forderungen protestiert. Die vorgeschlagenen Massnahmen beträfen vor allem die Landwirtschaft und gingen zu weit.

Hier möchte ich zunächst zwei Dinge sagen: Traditionell war der Blick entweder stark auf den Konsum, also auf individuelle Konsumentinnen und Konsumenten oder dann aber auf die Produktion – die Bäuerinnen und Bauern - gerichtet. Genau dies tun wir nicht. Wir nehmen explizit die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick, die Produktion, den Vertrieb, die Verarbeitung und den Konsum. Wir formulieren zahlreiche Massnahmen, die alle Akteure im System fördern als auch fordern. Wenn man den Bericht liest, dann ist dies ziemlich offensichtlich. Die Bäuerinnen und Bauern würde durch die vorgeschlagenen Massnahmen an vielen Stellen im Transformationsprozess aktiv unterstützt, zudem würden auch Verarbeiter, Handel und Konsumenten in die Pflicht genommen, ihren fairen Anteil zu tragen. Die Diskussion sollte sich weniger auf das Gegeneinander anstatt auf das Miteinander konzentrieren. Wir sollten uns nun darauf fokussieren, was im Transformationsprozess für alle zu gewinnen gibt.  

- Und der zweite Punkt?

Hier gilt es ein Missverständnis zu klären: Halb soviel Fleisch zu konsumieren in der Schweiz heisst nicht automatisch auch halb soviel Fleisch zu produzieren. Die Schweiz hat mit ihrer graslandbasierten Tierhaltung durchaus einen Standortvorteil und kann Milchprodukte an Orte exportieren, wo dieser Vorteil nicht gegeben ist. Das gilt umgekehrt auch für Früchte und Gemüse, wo wir in der Schweiz eher auf Importe angewiesen sind.

- Heute wird aber auch geeignetes Agrarland für die Tierhaltung verwendet.

Ja, Fleisch wird derzeit noch vom Markt stark nachgefragt und vom Staat bislang explizit unterstützt. Genau deshalb kann man jetzt nicht kommen und den Bäuerinnen und Bauern einseitig vorwerfen, sie produzierten nicht nachhaltig. Der Staat sollte aktiv den Wandel zu einer stärker pflanzenbetonten Ernährung sowie entsprechenden Wertschöpfungskette fördern.

- Sie formulieren in Ihrem Leitfaden vier Massnahmenpakete. Zentral soll bereits ab 2025 ein Transformationsfonds eingerichtet werden, um die Landwirtschaft nachhaltiger zu machen.

Die Grundprämisse lautet: wir müssen erst fördern und dann fordern. Das gilt in der Klimapolitik, in der Energiepolitik und natürlich auch in der Ernährungspolitik. Man muss neue Möglichkeiten schaffen, etwa indem man Bäuerinnen und Bauern Prämien für die Umstellung auf eine pflanzenbasierte Landwirtschaft zahlt und neue Formen der Wertschöpfung ermöglicht, etwa durch Agri-Fotovoltaik. Nun wurde während Jahrzehnten in Tierhaltung investiert, da erscheint es mir klar, dass nun umstellungswillige Betriebe aktiv unterstützt werden müssen. (Vgl. Tabelle 2)
 

Tabelle 2: Vier Massnahmen für ein nachhaltiges Ernährungssystem
1 Transformationsfonds (ausserhalb des Agrarbudgets) bis 2025 U.a. Umstellungsprämien für Bäuerinnen und Bauern, Weiterbildung fr Junglandwirt:innen; Ernährungsumstellung in Kantinen und Restaurants.
2 Regulatorische Massnahmen und Lenkungsabgaben ab 2025 U.a. Höhere Zölle für tierische Produkte sowie die Einführung einer CO2-Abgabe auf Lebensmittel.
3 Neue Agrarpolitik und Unterstützung für den ländlichen Raum U.a. Anpassung bei den Direktzahlungen sowie Steuererleichterungen für Landwirt:innen.
4 Regulatorische Massnahmen ab 2030 U.a. Verbot von Niedrigeres-Promotionen für Produkte wie Fleisch, Milch und Eier.
© Fesenfeld et. al. 2023

 


- Woher soll das Geld kommen?

Wir folgen hier einer Sequenzierungslogik. Bestehende öffentliche und private Mittel sollten zunächst im Sinne der Transformationsziele gebündelt werden. Wichtig ist, dass die öffentlichen und privaten Fördermittel aufeinander abgestimmt sind. In einem zweiten Schritt sollte dann ein grösserer Transformationsfond für die Förderung einer pflanzenbasierten Wertschöpfungskette eingeführt werden, zum Beispiel nach dem Vorbild Dänemarks. Die Schweiz hat ausgezeichnete Möglichkeiten, diesen Wandel zu finanzieren. Denken Sie nur an grüne Bonds; der Bund hat ja eben erfolgreich erste grüne Eidgenössische Anleihen ausgegeben. Wir sparen mittel und langfristig enorm viel Geld, wenn wir jetzt in diesen Umbau der Landwirtschaft investieren.

- Die Dringlichkeit ist gross. Besonders stossend ist das Thema Foodwaste. In der Schweiz werden pro Person und Jahr rund 330 Kilogramm Lebensmittel weggeworfen. Wäre es nicht klug, hier anzusetzen, um einen raschen Fortschritt zu erzielen?

Das Thema Foodwaste ist ein zentraler Hebel und hängt klar mit der Wertschätzung zusammen, die wir Lebensmitteln entgegenbringen. Je grösser die Wertschätzung, desto kleiner der Foodwaste. Lebensmittel sind zu günstig. Wenn wir aber hierüber sprechen, kommen wir sofort in eine Fairness-Debatte. Was bedeutet es, wenn Lebensmittel teurer werden? Soll es Kompensationen geben? Beim Thema Foodwaste reden wir auch über unseren Arbeitsalltag – über Personen, die stark eingespannt sind und sich häufig von Fastfood ernähren. So gelangen wir wieder zu einem systemischen Ansatz. Aber zurück zu Ihrer Frage. Natürlich haben sie recht - Wir kommen nicht darum herum, die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Das ist dringlich und konkret: Wir können als Konsument:innen sofort unseren Beitrag leisten. Aber auch hier gilt: Wir müssen Foodwaste auf allen Stufen der Wertschöpfungskette bekämpfen: In der Produktion, beim Vertrieb, bei der Verarbeitung und beim Konsum. Neben kreativen Massnahmen aus der Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft ist hier auch wieder der Staat gefragt, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir machen im Bericht einige konkrete Vorschläge dazu.

- Sie haben die Ergebnisse der Wissenschaftler:innen gemeinsam mit den Erkenntnissen eines Bürger:innenrats präsentiert. Warum?

Der Bürger:innenrat ist zu vielen ähnlichen Resultaten gekommen wie wir. Vor allem aber hat er gezeigt, dass es auch beim Thema Ernährung möglich ist, über parteiliche oder ideologische Grenzen hinweg, Lösungen zu erarbeiten. Ein ähnlicher deliberativer Verhandlungsprozess sollte nun zwischen den zentralen Stakeholdern im System stattfinden, zum Beispiel die involvierten Verbände. Auch ein Bäuerinnen- und Bauernrat könnte eine interessante Idee sein. Es braucht ihre Erfahrung und Innovationskraft.

- Herr Fesenfeld, sind Sie zufrieden mit der Aufnahme Ihrer Empfehlungen?

Die Dringlichkeit wird von der etablierten Politik deutlich geringer wahrgenommen, als es die planetaren Grenzen Biodiversität und Klima erwarten lassen. Wir können es uns gar nicht vorstellen, wie gross die Herausforderungen und Kosten schon in wenigen Jahren werden. Der Handlungsdruck wird nicht überall gleich eingeschätzt und wahrgenommen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das klar falsch. Ich hoffe sehr, dass nun von allen zentralen Stakeholdern die enormen Chancen gesehen werden, die eine Transformation des Ernährungssystems bietet. Jetzt haben wir noch ein kleines Zeitfenster, diese Transformation rasch gemeinsam anzugehen.

Zur Person

Dr. Lukas Fesenfeld (34) ist Politikökonomen und Transformations-Forscher und Leiter des wissenschaftlichen Gremiums «Ernährungszukunft Schweiz» vom Oeschger Zentrum für Klimaforschung der Universität Bern OCCR und von der ETH Zürich.

ZUM AUTOR

Marcus Moser arbeitet als Geschäftsleiter des Forums für Universität und Gesellschaft