Aktuell
Was bringt die Kirche der Gesellschaft?
Durchaus viel, wie Ursula Marti, SP-Grossrätin im Kanton Bern, in ihrem Referat aufzeigen konnte. Die Kirche habe viele Angebote. Sie müsse aber mit der Gesellschaft wachsen und sich weiterentwickeln.
Von Marcus Moser
Sie freue sich, einen Beitrag leisten zu dürfen, betonte SP-Grossrätin Ursula Marti. «Einen Beitrag aus der Sicht einer Politikerin, die die Kirche schätzt, einigermassen vertraut mit ihr ist, aber auch immer wieder kritisch hinschaut.» Als Politikerin sei sie sich gewohnt, zuerst jeweils die gesetzlichen Grundlagen zu sichten. Der Staat anerkenne die «gesamtgesellschaftliche Bedeutung» der Kirchen ausdrücklich, und zwar in Artikel 3 des Landeskirchengesetzes. In Artikel 31, Ziffer 2, würden die Leistungen im gesamtgesellschaftlichen Interesse sodann konkretisiert und reichten von Kinder- und Jugendarbeit bis hin zu Seelsorge. «Der Staat anerkennt also den gesellschaftlichen Nutzen der Kirchen, setzt dafür Steuergelder ein und definiert konkret, in welchen Bereichen die Kirchen die Gelder einsetzten sollen. Eine klare Mehrheit der Politik trägt dies heute mit.» Die Frage sei nun aber, ob die Kirche auch halte, was sie verspreche. «Welchen Mehrwert erbringen sie?», fragte die Politikerin.
Mehrwert für die Gesellschaft
Eine Auslegeordnung hierzu liege seit 2014 in Form einer Studie vor. Mehr als 90 Prozent der Kirchgemeinden hätten damals bei der Erhebung im Auftrag der Politik mitgemacht. «Man könnte stundenlang über die Leistungen sprechen», betonte Ursula Marti. Es sei Beratung in allen Lebenslagen, praktische Lebenshilfe bei Sinnfragen, zur Bewältigung von Krisen, bei Arbeitslosigkeit, zur Integration, bei Einsamkeit und Armut. Es gehe um Hilfe für Menschen, die sonst durch die Maschen fielen. Um Freizeitgestaltung für Kinder, Jugendliche und Seniorinnen und Senioren, um theologische und spirituelle Angebote, um Seelsorge in Spitälern und Gefängnissen und so weiter. Die Vielfallt sei riesig. «Die Leistungen der Kirche für die Gesellschaft sind für mich wie eine grosse Schatztruhe. Sie ist geöffnet, man darf sich daraus etwas herausnehmen, es nutzen, Hilfe annehmen. Aber man darf auch selber etwas hineinlegen. Vieles basiert ja auf Freiwilligenarbeit und gemeinsamem Engagement.»
Zu diesen Leistungen für die Gesellschaft kämen die kultischen Handlungen hinzu, betonte Grossrätin Marti. Gottesdienste und Kasualhandlungen würden nicht als gesamtgesellschaftliche Leistungen verstanden und seien im Gesetzt auch nicht erfasst. Der Staat sehe sie als Dienstleistungen der Kirchen für ihre Mitglieder – nicht für die Gesamtgesellschaft. Der Staat unterscheide klar die beiden Säulen gesellschaftliche und kultische Tätigkeiten der Kirche. «Ich bin aber überzeugt, dass auch die kultischen Tätigkeiten eine nicht unwesentliche gesellschaftliche Bedeutung haben», unterstrich Marti mit Hinweis auf die Lebensetappen oder das Kirchenjahr. Hier gehe es um besondere Rituale, die tief in unserer Gesellschaft verankert seien und auch kirchenfernen Menschen in besonderen Situationen Halt, Besinnlichkeit, Spiritualität und Trost böten.
Freiwilligenarbeit verdoppelt die geleisteten Stunden
Und die Zahlen? Bei der evangelisch-reformierten Kirche würden gemäss Studie rund 1 Million bezahlter Arbeitsstunden im Jahr geleistet. In der deutlich kleineren katholischen Kirche seien es rund 260'000 Stunden. Grob die Hälfte dieser Stunden falle im gesellschaftlichen Teil an. Hinzu kämen die unbezahlten Arbeitsstunden: rund 900'000 in der reformierten Kirche, rund 360'000 Stunden in der katholischen Kirche pro Jahr. «Mit Hilfe der Freiwilligen verdoppeln sich also die Zahlen der geleisteten Stunden. Ich finde das eindrücklich», anerkannte die Politikerin. Mit Blick auf die Kosten stellte Ursula Marti fest, dass der Wert der durch die reformierte und katholische Kirche erbrachten gesellschaftlichen Leistungen die öffentliche Finanzierung überträfen. «Fazit: Die monetäre Bilanz ist positiv – ohne dass die Kasualien eingerechnet wären.»
Kirche und Gesellschaft – gemeinsam weiter?
Die Entflechtung von Kirche und Staat werde sich fortsetzen, gab sich Grossrätin Ursula Marti überzeugt. «Der Staat regelt immer noch erstaunlich viel. Die Entkoppelung wird aber weiter gehen, kontinuierlich, nicht abrupt.» Das habe auch mit dem Sparkurs des Staates zu tun. Sodann werde auch die Kirchensteuer für juristische Personen immer neu hinterfragt. «Und diese Einnahmen betreffen die gesellschaftlichen Leistungen der Kirchen». Ein wichtiges Thema sei sodann die Anerkennung weiterer Religionen. «Meiner Meinung nach ist es angezeigt, dass der Staat weitere Religionen anerkennt und gesellschaftlich einbindet.» Wichtig sei dabei aber die Ausbildung der Geistlichen; die Einhaltung demokratischer Strukturen, der Menschenrechte sowie der Staatsverfassung. «Die Gleichstellung der Frauen ist sodann ein ungelöstes Problem. Ich denke dabei an die katholische Kirche, die als Landeskirche eine Vorbildrolle einnehmen müsste, was sie in meinen Augen klar nicht tut.» Dazu gehörten auch andere Diskriminierungen, jene von Geschiedenen oder von homosexuellen Personen. «Ich bin dankbar, wenn ich höre, dass es reformfreudige Personen gibt» betonte Grossrätin Marti, sie wünsche diesen, «dass sie etwas bewirken können.» Ansonsten werde der Riss in der Gesellschaft in diesen Fragen grösser. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Sinnfindung und Spiritualität der Menschen bleibe erhalten, gab sich Ursula Marti zum Abschluss überzeugt: «Die Kirche hat hier Angebote. Sie muss aber mit der Gesellschaft wachsen und sich weiterentwickeln.»